Kein Weltrekord
Mit
Daniel Gisiger war abgemacht, dass ich ihn als Mechaniker am 6-Tagerennen 1983
in Grenoble betreuen sollte. Ahnungslos und gänzlich unvorbereitet erhielt ich
kurz vor der Abreise von ihm telefonisch Bescheid, er würde während dieser Prüfung
noch zusätzlich den vom deutschen Siegfried Adler seit Jahren gehaltenen
Hallen-Stundenweltrekord angreifen.
Gisiger war damals in der Form seines Rennfahrerlebens. So gewann er doch diesen Herbst neben zwei rein französischen Klassikern das Einzelzeitfahren Grand Prix des Nations sowie das Paarzeitfahren Trofeo Baracchi (mit Silvano Conti). Wir alle in seinem Umfeld sowie die französische und schweizerische Presse trauten ihm zu, dass er neuer Stundenweltrekordmann in der Halle werden würde. Es kam aber alles ganz anders, wir wurden eines besseren belehrt. Damals schon mussten wir enttäuscht erkennen, dass gänzlich unvorbereitet und erst noch während der Teilnahme an einem 6-Tagerennen, auch mit "guten Beinen", ein Weltrekordversuch nicht gelingen kann. Alles ging so los. Zuerst einmal hatte ich nach Oerlikon zu Fritz Brühlmann zu fahren, um Gisigers einstiges Bahnvelo mit den Flachspeichenrädern (brauchbare Scheibenräder gab es damals noch nicht) zu holen und daheim vorzubereiten.. Das Material war schon, nachdem es in Gisigers Amateurzeit zu Rekordzwecken eingesetzt worden war, im "Museum" von Fritz eingelagert. Zuhause galt es, noch schnell alle Lager zu revidieren. Für die Montage der 19 mm breiten Seidenreifen reichte die Zeit vor der Abfahrt nach Grenoble nicht mehr. Meine Frau und ich rollten noch das bereifte, jedoch ungekittete Hinterrad auf dem Stubenboden ab, um den effektiven Raddurchmesser auf den Millimeter genau an seinen damaligen Trainer Paul Köchli zu melden. Damit konnte Paul rechnerisch verschiedene Uebersetzungsvarianten und die dazu notwendige Zähnezahl der Kettenräder und Zahnkränze ermitteln. Zwei Tage vor dem Start zum 6-Tagerennen fuhren Daniel, Patrick Moerlen und ich Richtung Grenoble los. Der Volvo Combi war bis auf den letzten Kubikzentimeter vollgestopft. Fünf Velorahmen, unzählige Laufräder, Ersatzreifen, Werkzeuge sowie das persönliche Gepäck fanden dank Daniels "Stapelkunst" (Schule Brühlmann) noch Platz. Wir passierten den Zoll nach Frankreich problemlos, dann aber ging es mit der Serie von "Pleiten und Pannen" los. Nach rund 30 km Fahrt war die Strasse abgesperrt. Nagelketten waren zu umfahren und grimmig aussehende Zöllner, ausgerüstet mit Maschinenpistolen, wiesen uns auf einen Parkplatz ein. Wir hatten das ganze Auto auszuräumen und an Ort und Stelle eine Materialliste zu erstellen. Der Chef der Douaniers wies uns darauf hin, dass wir die nötigen Einfuhrpapiere nicht hätten und dass sowieso pro Rennfahrer die Einfuhr von nur 2 Velorahmen erlaubt sei. Wir sollen wieder zum Grenzposten zurück, um die Angelegenheit in Ordnung zu bringen. Dort im Grenzposten waren alle Zöllner Fans von Daniel. Dementsprechend war mit der Abgabe von Autogrammkarten und Rennmützen sowie Daniels Charme die Angelegenheit schnell erledigt. Wieder in Frankreich zurück, galt es allerdings, den gewissen Kontrollposten "grosszügig zu umfahren. Es war Sonntag. Bei der Ankunft in der Sporthalle von Grenoble stellten wir zuerst einmal fest,dass die Halle überall verschlossen und der in der Halle wohnende Abwart nicht aufzufinden war. Es wurde so langsam dunkel, bis der Mann erschien. Er wusste natürlich von allem nichts und hatte daher zuerst einmal in den "Katakomben" für uns eine Schlafmöglichkeit sowie für mich einen Werkstattraum für das viele Material herzurichten. Alle Räume ohne jegliche Fenster und spärlich beleuchtet. Für mich wurde die Nachtruhe sehr kurz, so wollte ich unbedingt noch die Spezial-Laufräder bereift haben. Das Schellackbett auf den Felgen war unbrauchbar, ich hatte mühsam alles runterzuschleifen. Die Zeit reichte nicht mehr für den aufwendigen Einsatz von Schellack. So versuchte ich es zum ersten Mal, die Reifen mit Kontaktkleber festzukitten. Eine Methode, die bisher nur die DDR-Mechaniker anwendeten und die ich nur vom Hörensagen kannte. Für einen Neuling eine nervige und anspruchsvolle Arbeit. Dadurch, dass ich die Technik noch schnell auf einer Ersatzfelge und einem gebrauchten Reifen ausprobierte, und das alles unter Dämmerlicht, gelang mir die Herausforderung beim ersten Versuch. Daniel fuhr am Montag-Nachmittag, nachdem die Bahn einigermassen vorbereitet war, hinter einem Derny locker während einer Stunde. Ich hatte noch die Velos und Laufräder, auch jene von Patrick Moerlen, für den Start am Abend zum 6-Tagerennen zu präparieren. Mit dem Veranstalter war abgemacht, dass der Weltrekord als Grossereignis am Mittwochabend stattfinden soll. Das 6-Tagerennen sei während dieser Zeit unterbrochen und Daniel Gisiger für die nachfolgende grosse Jagd neutralisiert. Ich bemerkte schon bald während den ersten grossen Jagden am Montag und Dienstag, dass Daniel mit seinem französischen Partner Patrick Clerc auch noch den Gesamtsieg im Auge hatte. |
Am Dienstag-Nachmittag, noch bei leerer Halle, fand der Test zum Weltrekord statt. Paul Köchli erschien mit einem dicken Stapel an bedruckten Endlosformularen mit unendlichen Zahlen von Rundenzeiten und Uebersetzungsvarianten. Paul
war damals einer der Ersten, der einen selbstgebauten Computer benutzte. Er gab mir einen mehrteiligen Auftrag, ohne mich zu fragen, ob ich das auch könnte. Ich hatte Daniel beim Start zu halten, dann zum Jury-Tisch zu sprinten, den Rundenzähler zu bedienen sowie mittels der Glocke den Vorsprung oder den Rückstrand auf die Marschtabelle zu läuten. Ich wurde dabei recht nervös und war schnell einmal überfordert. Alain Bondue, der damalige Finalgegner beim Olympiasieg 1980 in Moskau von Robert Dill-Bundi, sass als Zuschauer neben mir. Er überschaute meine Situation und sprang helfend ein. Gemeinsam meisterten wir die Sache. Der Test fiel zufrieden aus und Optimismus schien sich auszubreiten. Am Mittwoch, dem grossen Tag, ging der Rummel schon am Morgen los. Es tauchten etwa 40 Journalisten, Fotografen und Filmleute aus Frankreich und der Schweiz auf. Gisiger hatte keine Möglichkeit mehr, sich zurückzuziehen und sich mental auf die Prüfung vorzubereiten. Die Presse liess ihm keine Ruhe und verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Er genoss einerseits das "Bad in der Menge", andererseits aber merkte ich, dass er den Kopf immer wie weniger bei der Sache hatte. Um 2200 Uhr sollte der Start zum Weltrekord erfolgen. Eine Stunde vorher stellte ich neben der Bahn das Velomaterial inmitten der Leute von der Presse bereit. Eine schützende Absperrung rund um das Materiallager war, obwohl ich früh insistierte, nicht vorhanden. Die "lieben Leute" von der Presse standen mir im Wege und trampelten noch über das Material. Etwa zehn Minuten vor dem Start waren sich Daniel und Paul endlich einig, welchen Gang ich auflegen sollte. Es galt ja noch Kettenrad und Zahnkranz zu montieren und eventuell noch die Kette zu kürzen oder zu verlängern. Ziemlich gestresst schaffte ich alles noch. Die UCI-Kommisäre und Paul Köchli mit der Marschtabelle sassen schon bereit. Ich hatte Daniel beim Start zu halten und ihn auf das Signal hin ohne anzustossen fahren zu lassen. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl mehr. Die vorgängigen Probleme und Unzulänglichkeiten schienen mir eine Nummer zu gross gewesen zu sein. Der Startschuss ertönte und Daniel fuhr los. Innerhalb der ersten Viertelstunde sah noch alles gut aus. Die vollbesetzte Halle tobte. Er hatte auf die vorgegebene Marschtabelle immer einen kleinen Vorsprung. Ich hatte für den Fall eines Defektes nahe am Bahnrand bereit zu stehen und konnte so Daniel jede Runde aus nächster Nähe beobachten. Sein runder Tritt schien mir plötzlich nicht mehr so optimal zu sein. Die Souplesse, seine eigentliche Stärke als guter Zeitfahrer, schien etwas zu fehlen. Und tatsächlich kam er langsam in Rückstand. Er versuchte nochmals aufzuholen, aber es gelang ihm nicht. Er gab auf, ich hielt ihn an und meinte, in seinen Augen den Anschein von Tränen gesehen zu haben. Interessant ist noch zu erwähnen, dass zehn Minuten nach der Aufgabe von unseren lieben Presseleuten nichts mehr zu sehen war. Sie schlichen sich davon. Nach dieser Niederlage sagte mir Daniel, jetzt erst recht wolle er diese Scharte auswetzen und trotz den "Platzhirschen" Vallet-Michaud das 6-Tagerennen gewinnen. Diese meinten, sie hätten den Sieg schon in der Tasche. Gisiger-Clerc aber hielten vehement dagegen und schafften kurz vor Rennende den entscheidenden Rundenvorsprung zum Sieg. Fazit: Höchstleistungen sind nur mit einer bis ins kleinste Detail durchgezogenen Planung und Vorbereitung möglich! |