Pneus oder Collés
Anfangs
der Achzigerjahre entwickelte Michelin die ersten brauchbaren faltbaren Pneus für
den Einsatz an Strassenrennen. Einige wenige französische Profi-Mannschaften,
unter anderem Peugeot sowie die französische Amateur-Nationalmannschaft hatten
damit zu fahren. Um Erfahrungen zu sammeln und sie anschliessend zu verwerten,
waren die Fachleute von Michelin während der Testphase an den Rennen immer präsent.
Die ARIF-Sportgruppe Peugeot Suisse, deren Mechaniker ich zu dieser Zeit war,
fuhr ebenfalls mit Pneus. Wir hatten damit keine Probleme und im Gegensatz zu
vorher mit Collés praktisch keine Reifendefekte mehr. Die Fahrer gewöhnten sich
nach anfänglicher Skepsis schnell an die Umstellung.
Monsieur Grandjean, der damalige Direktor von Peugeot Suisse lud mich 1984 zusammen mit den Reifenspezialisten von Michelin zu einem Erfahrungsaustausch ein. Wir hatten gegenseitig einiges zu berichten und zu diskutieren. Unter anderem fragte ich die Michelin-Leute "Warum nicht auch faltbare Pneus für Bahnrennen?" Trotz den Hauptanforderungen an solche Reifen, geringeres Gewicht und einer Druckbeständigkeit von mindestens 11 bar, gaben die Spezialisten die Zusage. Das sei alles machbar und für Michelin interessant und sie würden nach Rücksprache mit der Geschäftsleitung das Projekt sofort aufnehmen. Trotzdem unser Gespräch im Spätsommer stattfand, versprachen sie mir eine Lieferung von Prototypen vor Ende November, also kurz vor dem Start des Zürcher 6-Tagerennens. Zu Hause bereitete ich einen neuen Satz Bahn-Laufräder, jedoch mit Pneu- anstatt den üblichen Collé-Felgen vor. Da ich gegen Mitte November von Michelin noch nichts hörte und sah, verschickte ich an sie ein Fax, sie mögen doch, sofern sie es bis Ende November noch schaffen, die Reifen direkt zu mir ins Hallenstadion senden. Es klappte doch noch, die Ware traf am zweiten Renntag per Spezialkurier bei mir ein. Die Pneus wurden sofort montiert, auf 11 bar aufgepumpt und die Laufräder sicherheitshalber erst einmal eine Nacht stehen gelassen. Es geschah nichts. Ich erzählte natürlich niemandem etwas davon. Sie sahen gut aus, zwischen Pneus und Collés war, wenn man es nicht wusste, optisch fast kein Unterschied festzustellen. Das Problem war jetzt, einen Testfahrer zu finden. Ein Siegfahrer wie mein Freund Daniel Gisiger kam sowieso nicht in Frage und alle andern hätten wahrscheinlich dankend abgelehnt. So ging ich voll auf Risiko. Heute noch erschrecke ich, wenn ich daran zurück denke. An den 6-Tagerennen gab es täglich, meistens am Schluss der Nacht, die kleine Jagd, auch "Battati-Jagd" genannt. Da liessen die grossen Fahrer die schwächeren Mannschaften in Ruhe, damit sie einiges an verlorenen Runden gutmachen konnten. So hatten sie in der Endabrechnung nicht Rundenverluste in zweistelliger Höhe zu verzeichnen. Viktor Schraner, mit mir weder verwandt noch verschwägert, wählte ich, ohne ihn zu befragen, als Testfahrer aus und montierte ihm die Laufräder. Als die "Battati-Jagd los ging, wurde es für mich ungemütlich. Fragen tauchten auf, halten die Pneus, ertragen die Felgen den hohen |
Reifendruck oder rutscht mir etwa der Fahrer beim Langsamfahren die Kurve hinunter. Ich erschrak zwischendurch ob meinem Mut und andererseits ob meiner Frechheit, einen Fahrer ohne dessen Einwilligung einzuholen, einfach so fahren zu lassen. Ich konnte das Ende der Jagd kaum abwarten und starrte ständig auf den Rundenzähler.
Nichts passierte. Nach Ende der Jagd fragte ich "Vik", ob alles gut gelaufen sei. Er bejahte dies und ich gestand ihm, dass er mit Pneus gefahren sei. Er schien es nicht zu glauben. Erst als ich bei einem Pneu die Luft abliess, war er zu überzeugen. Doch bemerkte er noch nachträglich, typisch Rennfahrer, er hätte das Gefühl gehabt, das Vorderrad hätte manchmal etwas geflattert. Am Nachmittag kam der Fahrer Roland Vögeli zu einem Schwatz an meinen Werkbank. Ich zeigte ihm die Pneu-Laufräder. Er war fasziniert und anerbot sich, jetzt wo die Bahn frei sei, damit zu fahren. Er kannte als Routinier alle kritischen Stellen auf der Bahn und fuhr fast eine Stunde lang schnell, extrem langsam und auch hoch oben an der Balustrade entlang. Er hatte nie Probleme und fragte mich begeistert, ob er für den Rest des 6-Tagerennens die "Battati-Jagden mit diesen Laufrädern fahren dürfe. So könne er die extrem teuren Collés schonen und dabei etwas Geld sparen. So fanden die Pneus den Zugang auf die Rennbahnen. Sie wurden im Laufe der Zeit immer mehr verfeinert und veredelt. Ein kleiner Familienbetrieb in Paris produziert heute sogar sündhaft teure Bahnpneus, alle von Hand gefertigt. Dennoch, ein leichter Collé hat halt immer noch mehr "Leben" als ein Pneu! |